Vor zwei Jahren lief in unseren Kinos ein religiöser Film, der viel Diskussionsstoff lieferte: „Die Passion Christi“. Nach allem, was ich darüber gehört und gelesen hatte, habe ich mich erst einmal heftig gesträubt, ihn mir anzuschauen. Da ich ständig nach meiner Meinung gefragt wurde, bin ich schließlich doch hingegangen.

Der Film hat in mir einen sehr zwiespältigen Eindruck hinterlassen. Auf der einen Seite gibt es sehr ergreifende Szenen; z.B. wie Maria, die Mutter Jesu, ihren Sohn auf seinem ganzen Kreuzweg begleitet; oder wie Petrus seine Verleugnung bitter bereut; oder wie Simon von Cyrene Jesus beim Kreuztragen auch menschlich näher kommt und ihn vor den Soldaten in Schutz nimmt usw. Dieser Film ist ein Beispiel „heißer“, glutvoller Religiosität. Er beruft sich auf die Visionen der Anna Katharina Emerich von 1833 und schöpft aus der Leidensmystik spanischer, lateinamerikanischer und philippinischer Passionsspiele.

 

Auf der anderen Seite hat mich dieser Film in mancher Hinsicht auch abgestoßen. Denn – im Unterschied zu der sehr zurückhaltenden Darstellung der Evangelien – werden einige Szenen geradezu als Orgien von Gewalt und Blut dargeboten. Fast zehn quälende Minuten lang zieht sich die Geißelung hin, oft in Zeitlupe und Nahaufnahme; ähnlich der Kreuzweg durch Jerusalem und die Kreuzigung. Die ganze Grausamkeit der Folterung und Tötung Jesu wird über zwei Stundenhin so detailfreudig ausgemalt, dass es mir zeitweise immer unerträglicher wurde, überhaupt noch hinzuschauen. Höchstwahrscheinlich wird die Passion Jesu historisch durchaus so schrecklich gewesen sein. Aber was mag den Regisseur dazu bewogen haben, die Leidensgeschichte Jesu heutigen Kinobesuchern so drastisch vor Augen zu führen? Zweifellos zieht der Film allein schon deswegen alle möglichen Register, um bei dem normalen, an Gewalt gewöhnten Kinopublikum überhaupt noch eine tiefere Erschütterung über das Leiden Christi hervorzurufen.

Darüber hinaus scheint mir aber auch eine ganz bestimmte Opfer- und Erlösungsvorstellung dahinter zu stehen. Eine Vorstellung, die heute meist nur noch in protestantisch-freikirchlichen Gemeinschaften und in katholischen Randgruppen vertreten wird. Sie besagt: Das Gewicht der menschlichen Sünde gegenüber Gott ist ungeheuer groß. Aber indem Jesus, der Sohn Gottes, dem Willen des Vaters gehorsam, das absolute Maximum an körperlichen und seelischen Schmerzen auf sich genommen und dabei sein ganzes Blut vergossen hat, hat er eine die Sünde der Welt tilgende Sühne geleistet. So hat er den Zorn Gottes besänftigt und die verdiente Strafe für alle Menschen von uns auf sich abgelenkt. Dadurch sind wir wieder mit Gott versöhnt und aus der Macht der Sünde und des Teufels erlöst. Dementsprechend schreit im Film der Teufel nach dem Tod Jesu auch fürchterlich auf; er weiß, dass er den Kampf verloren hat. Dies scheint mir ein zentraler Punkt der religiösen Botschaft des Films zu sein.

Viele Christen empfinden heute eine solche Vorstellung von Erlösung und Versöhnung, vor allem auch das damit verknüpfte Gottesbild als schrecklich, ja als sadistisch. Mit Recht! Denn man kann die biblischen Aussagen über die Erlösung durch Jesu Leiden, Sterben und Auferstehen auch ganz anders lesen. Danach liegt der eigentliche Grund unserer Erlösung von der Macht des Bösen und somit auch unserer Versöhnung mit Gott durch Jesus nicht im Maximum an vergossenem Blut und erlittenen Schmerzen, sondern im „Maximum“ an jener Hingabe, die Jesus in seinem ganzen Leben bis zum Tod gelebt hat.

Die Hingabe Jesu ist das Entscheidende. Zum einen die Hingabe an seine Sendung: Er blieb dem Auftrag des Vaters bis zum Äußersten treu, indem er den Menschen nicht nur durch Wort und Tat, sondern auch durch Leiden, Sterben und Auferstehen den unwiderruflichen Anbruch der Gottesherrschaft verkündete. Gottes Gerechtigkeits- und Friedenswille soll nicht nur im Himmel, sondern auch auf Erden das Leben der Menschen „beherrschen“; die Welt soll zum „Reich Gottes“ werden.

Zu dieser Gottesherrschaft gehört aber wesentlich die grenzenlose Vergebungs- und Versöhnungsbereitschaft Gottes, wie sie z.B. im Gleichnis vom barmherzigen Vater in Lk 15 so eindrücklich veranschaulicht wird. Dementsprechend erwartet er auch von denen, die Gottes vergebende Liebe bei sich selbst erfahren haben, eine ebenso großherzige Vergebungsbereitschaft anderen Menschen gegenüber (vgl. Mt 18,22).Auch sie ist ein Kernpunkt der Gottesherrschaft „mitten unter uns“.

Nun aber verschließt sich der Großteil Israels dieser Botschaft und dieser Praxis Jesu. Die Verantwortlichen des Volkes Israel liefern den Boten der bedingungslosen Versöhnungsbereitschaft Gottes an die Ungläubigen aus. Trotz dieser Verweigerung Israels hält Jesus an seiner Sendung fest. Selbst angesichts des Verbrechens, das an ihm begangen wird und das so nicht von Gott gewollt ist, betet er:„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34). Im Abendmahlssaal deutet Jesusseinen bevorstehenden Tod als Zeichen des „Neuen Bundes“, als letztes Bundesangebot Gottes an sein Volk und an alle Menschen. „Für euch und für alle“ gibt Jesus bereitwillig sein Leben hin, damit uns endlich die Augen des Glaubens aufgehen und wir erkennen, was wir von uns aus mit der Sünde des Unglaubens wählen: nämlich statt des Lebens in der Freundschaft mit Gott den geistlichen Tod der ewigen Gottferne. Aus diesem Tod will Gott uns unter allen Umständen erretten. Sein Weg dazu ist Jesu Treue und Vertrauen bis zum Letzten.

Diese Gestalt der Hingabe an seine Sendung, die ihm der Vater gegeben hat, wird biblisch meist „Gehorsam“ genannt (z.B. Phil 2,8). Sie führt Jesus in eine ganz tiefe Schicksalsgemeinschaft mit uns sündigen Menschen. Dies ist die andere, vor allem den Menschen geltende Richtung seiner Hingabe: In seinem Leben und Sterben teilt er aus Liebe das Los aller Menschen, die Gott gegenüber schuldig werden. Er teilt ihre selbst gewählte Ferne von Gott – mit all den Konsequenzen an Leid und Schmerzen, die diese Aufkündigung des Vertrauens und der kindlich-vertrauten Beziehung zu Gott vom Anfang menschlicher Geschichte an (vgl. Gen 2 und 3!) mit sich bringt (z.B. die von Angst, Misstrauen und Gewalt bestimmten Beziehungen unter den Menschen, aber auch des Menschen zur ganzen Schöpfung, die von ihm so maßlos ausgebeutet wird).

Was aber ist an dieser Solidarität Jesu, des Sohnes Gottes, mit uns Menschen so erlösend und versöhnend? Die Kirchenväter haben es gut auf den Punkt gebracht:„Was nicht angenommen ist, ist nicht geheilt.“ (Irenäus, Origenes, u.a.) Das heißt: Weil in Jesus, dem „Bild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15) und seiner grenzenlosen Liebe, Gott selbst die durch die Sünde zutiefst beschädigte Situation des Menschen angenommen hat, sie an sich selbst „leibhaftig“ herangelassen hat und stets weiter heranlässt, gibt es keinen Ort, keine Situation, keine Schuld und kein Leid mehr in dieser Welt, in denen nicht Gottes versöhnende Liebe präsent wäre. Wo und wie auch immer Menschen sich dieser Liebe öffnen, verändert sich die Welt; da verliert das Böse seine ängstigende Übermacht und das Leid seine letzte Heillosigkeit; da kann der Versöhnungswille Gottes sich heilend auf das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zum anderen Menschen und zur außermenschlichen Schöpfung insgesamt auswirken; da wächst das Reich Gottes.

In seinem Gedicht „Christen und Heiden“ hat Dietrich Bonhoeffer 1944 (in nationalsozialistischer Haft) dieses biblische Erlösungsverständnis so zusammengefasst:

 

Menschen gehen zu Gott in ihrer Not,

flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot,

um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod.

So tun sie alle, alle, Christen und Heiden.

 

Menschen gehen zu Gott in Seiner Not,

finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,

sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod.

Christen stehen bei Gott in Seinem Leiden.

 

Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not,

sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot,

stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod,

und vergibt ihnen beiden.

 

aus: Jesuiten. Informationen der Deutschen Provinz der Jesuiten, 57. Jg., 2006, Heft 2.